Der abrupte Abschluss der KV-Verhandlungen in der Sozialwirtschaft Österreich lässt uns wütend, zornig und enttäuscht zurück. Wir sind wütend über das undemokratische Drüberfahren der Gewerkschaftsspitzen, das zu diesem fatalen Abschluss geführt hat. Wir sind enttäuscht darüber, dass auf die Karotte vor der Nase in Form einer Corona-Prämie in der Höhe von 500 EUR (wo noch nicht mal klar ist, wem diese genau zusteht) reingefallen wurde. Unsere Betriebsratsvorsitzende Selma Schacht hat deshalb im gewerkschaftlichen Verhandlungsteam auch gegen diesen fatalen Abschluss gestimmt.
Konkret bedeutet die „sozialpartnerschaftliche“ Einigung: ein Dreijahresabschluss mit mauen 2,7% für heuer, VPI (Inflation) plus 0,6% nächstes Jahr und eine Mini-Arbeitszeitsverkürzung um eine Stunde im Jahr 2022, die wir uns durch den Wegfall einer Gehaltserhöhung und mit einer Verschlechterung der Mehrarbeitszuschläge auch noch selbst zahlen. Ja, die Gewerkschaft betont zurecht, dass damit die 37-Stunden-Woche für die gesamte Branche ein Durchbruch ist. Und ja, der Gehaltsabschluss liegt teilweise über den Abschlüssen anderer Kollektivverträge vor und während der Corona-Krise. Das wäre ohne die Streikbewegung nicht möglich gewesen. Aber was ist der Preis, der für diese kleinen Fortschritte gezahlt wurde?
Bewegung abgewürgt
Im Laufe der letzten Jahre entwickelte sich die Sozial-, Gesundheits- und Pflegebranche zu einer Vorreiterin im gewerkschaftlichen Kampf. Von Jahr zu Jahr und 2020 von Streiktag zu Streiktag beteiligten sich mehr KollegInnen an der Auseinandersetzung. Allein wir haben betrieblich dabei insgesamt drei Streiktage durchgeführt und dabei mit weit mehr als 1.000 MitarbeiterInnen gemeinsam gestreikt. Es gab eine beeindruckende Vernetzung zwischen Betriebsräten und Streikkomitees, große Kundgebungen und Demonstrationen wurden organisiert. Österreichweit fanden Betriebsversammlungen und Streiks statt und unsere Branche hat sich zu einem Motor des gesellschaftlichen Ringens um eine Arbeitszeitverkürzung entwickelt. Eine Forderung, die sich in der Gesellschaft über einzelne Branchen hinweg immer weiter verbreitet. An hunderten Betriebsstandorten haben sich KollegInnen in den Arbeitskampf begeben, dabei unzählige Diskussionen geführt, Konflikte ausgetragen und Risiko auf sich genommen. Wir haben nicht für einen faulen Kompromiss und einen dreijährigen Maulkorb gestreikt, sondern weil es uns mit der dringend notwendigen Verbesserung unserer Arbeitsbedingungen ernst ist. Dafür werden wir auch weiterhin kämpfen. Dennoch stellt dieser Abschluss einen Schlag ins Gesicht aller KollegInnen dar, die sich für ihre Interessen engagiert haben.
„Kompromisse“ in Zeiten des Ausnahmezustands
Noch nie war in der Bevölkerung – gerade in Zeiten des Corona-Ausnahmezustands – das Verständnis für die schwierige Situation der Beschäftigten in der Sozialwirtschaft höher. Noch nie war offensichtlicher, wie wichtig (ja, systemrelevant!) die von uns geleistete Arbeit ist. Auch die Einsicht darin, dass Klatschen nicht reicht, um die Verschlechterungen und Arbeitsintensivierungen der letzten Jahrzehnte auszugleichen. Genauso ist bei vielen Menschen die Unterstützung dafür vorhanden, dass es notwendig ist, gute Arbeitsbedingungen in diesem Bereich zu schaffen und das Gesundheits-, Sozial- und Bildungssystem öffentlich auszubauen, anstatt kaputt zu sparen. Es ist heute glasklar, wer die wahren „LeistungsträgerInnen“ in unserer Gesellschaft sind. Statt dies für zusätzlichen Druck für die Forderung nach einer 35-Stunden-Woche zu nutzen, wurde durch die Zustimmung zu diesem KV-Abschluss eine an Dynamik zunehmende, gewerkschaftliche Bewegung und die Chance auf tatsächlich Erfolge abgewürgt – unter Federführung von SpitzenrepräsentantInnen des gewerkschaftlichen Verhandlungsgremiums. Die Gewerkschaftsspitzen der Branche haben gemeinsam mit den Arbeitgebern offensichtlich die Corona-Krisensituation ausgenutzt und diesen Abschluss auf Biegen und Brechen in einem völlig absurden Eiltempo durchgedrückt.
Auch wenn wir verstehen, dass unter den Maßnahmen zur Verhinderung einer raschen Ausbreitung des Coronavirus Arbeitskämpfe in üblicher Form nicht einfach umsetzbar sind, bedeutet das noch lange nicht, dass wir die Forderung nach einer 35-Stunden-Woche aufgeben müssen und dass so ein langjähriger Abschluss überfallsartig, voreilig und kopflos notwendig ist. Aufrechte Streikbeschlüsse in zahlreichen Betrieben zeugen davon, dass eine Kampfbereitschaft gegeben ist und notfalls hätte für dieses Jahr eine Übergangslösung gefunden werden können. Dies ist aber nicht passiert, sondern im Gegenteil wurde im Grunde ein Angebot der Arbeitgeber, welches vor einem Monat noch einstimmig(!) abgelehnt wurde, plötzlich angenommen und wird nun als „guter Abschluss mit Verantwortung“ präsentiert. Damit belügt man sich nicht nur selbst, sondern weist genau jene Verantwortung, die wir in der aktuellen Krise zu tragen haben, von sich. Gewerkschaften sind immer in erster Linie den Interessen ihrer Mitglieder verpflichtet und tragen Verantwortung dafür, dass die Interessen der Beschäftigten vertreten werden. Gerade jetzt, wo die Arbeitslosigkeit massiv steigt, müsste sich die Gewerkschaft in unseren Augen für Arbeitszeitverkürzungen bei vollem Personal- und Lohnausgleich einsetzen: auch um neue Arbeitsplätze zu schaffen!
Ein demokratiepolitischer Skandal
Für uns ist es demokratiepolitisch nicht tragbar, wie seitens der Gewerkschaftsführungen vorgegangen wurde. Die Mitglieder des großen Verhandlungsteams (das den Abschluss mit 13 Gegen- und 40 Pro-Stimmen angenommen hat) wurden regelrecht überfallen, mit einer noch nie dagewesenen Abstimmung per E-Mail konfrontiert und unter Druck gesetzt. Hier wurde dann der Abschluss über eine einseitige Ja-Nein-Abstimmung übers Knie gebrochen. Dieses Vorgehen verunmöglichte jegliche Diskussion im Gremium, weil keinerlei Raum für die Argumente der einzelnen Mitglieder geschaffen wurde. Doch gerade in Zeiten wie diesen wäre eine offene und solidarische Diskussion unbedingt notwendig! So wie es gehandhabt wurde, hatten die Mitglieder des großen Verhandlungsteams nicht mal die Möglichkeit, unterschiedliche Positionen einzubringen, zu diskutieren, unterschiedliche Szenarien abzuwägen oder Änderungsvorschläge bzw. Abänderungsanträge einzubringen. Das entspricht nicht unserem Verständnis innergewerkschaftlicher und kollegialer Debatte. Viel mehr halten wir das für einen demokratiepolitischen Skandal und sind der Meinung, dass ein KV-Abschluss im Rahmen einer Abstimmung den Gewerkschaftsmitgliedern in der Branche vorgelegt werden müsste. Eine solche „Urabstimmung“ ist in anderen Ländern auch längst üblich. Es ist absurd, dass ein Abschluss von dieser Tragweite für eine Dauer von drei Jahren auf eine derart undemokratische Art und Weise zustande kommt.
Geht nicht, gibt’s nicht!
Viele KollegInnen sind nun sehr enttäuscht, wütend, sprachlos. Manche stellen den Sinn von Gewerkschaften infrage. Uns ist aber wichtig klarzustellen: Wir werden weiterhin gemeinsam für bessere Arbeitsbedingungen einstehen, wir werden weiterhin unsere Gewerkschaftsmitgliedschaft nutzen, um Druck von unten aufzubauen. Auch wir sind Gewerkschaft und je mehr wir sind, desto eher können wir Transparenz über die KV-Verhandlungen einfordern und unseren Forderungen noch mehr Gewicht verleihen. Wir werden uns weiterhin gemeinsam organisieren, um unsere Arbeitsbedingungen zu verbessern, innerbetrieblich und vernetzt mit anderen Betrieben unserer Branche. Dafür gab es auch in den Abstimmungen unserer Streikversammlungen überwältigende Mehrheiten.
Wir sagen ganz klar: Geht nicht, gibt’s nicht! Wir kämpfen weiter: aktiv, kreativ und mit geeinter Kraft!
Betriebsrat und Streikkomitee der Bildung im Mittelpunkt GmbH, 1.4.2020